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Warum Frankreich bei Schweizer Ausgewanderten die Nummer 1 ist

Eine Frau vor einem TGV
Zwischen Geschichte, Kultur und Nähe: Kein anderes Land beherbergt so viele Schweizerinnen und Schweizer wie Frankreich. Keystone / AFP / Ian Langsdon

Ein Viertel aller Auslandschweizer:innen lebt in der Grande Nation. Warum zieht es so viele Schweizer:innen nach Frankreich? Dieser Teil unserer Serie über das beliebteste Auswanderungsland beleuchtet Geschichte, Verflechtungen – und aktuelle Herausforderungen.

Leben in Frankreich – warum eigentlich? 

Wie lebt man in Frankreich? 

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – gefährdete Prinzipien? 

Wie steht es um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich? 

Ein Blick in die gemeinsame Geschichte 

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Leben in Frankreich – warum eigentlich? 

Zunächst ist festzuhalten: Mehr als 158’000 der insgesamt 212’000 Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich sind Doppelbürger:innen. Ein Teil davon gehört mindestens zur zweiten Generation Auswanderer – sie sind im Ausland geboren, besitzen aber über ihre Familie die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Vier von fünf Ausgewanderten stammen aus der Romandie. Die kulturelle Nähe und die gut etablierten Schweizer Gemeinschaften in Frankreich erleichtern die Integration – und dies bereits seit Jahrzehnten. 

Ein neuerer, aber ebenso wichtiger Faktor der Attraktivität Frankreichs ist das Abkommen über die Personenfreizügigkeit, das seit 2002 Rechte hinsichtlich Einreise, Aufenthalt und beruflicher Tätigkeit garantiert.

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Hinzu kommt aktuell ein nicht unerheblicher wirtschaftlicher Aspekt: «Frankreich bietet oft tiefere Lebenshaltungskosten als die Schweiz, insbesondere beim Wohnen», so Ariane Rustichelli, ehemalige Direktorin der Auslandschweizer-Organisation (ASO). 

Die Gründe für eine Auswanderung variieren nicht nur auf der Zeitachse, sondern auch  je nach Region. In Paris steht häufig die Arbeit im Vordergrund; in Grenzregionen suchen viele nach bezahlbarem Wohnraum; im Süden wiederum steht die Lebensqualität an erster Stelle – Sonne, Pastis und provenzalische Märkte ziehen an.

Aber wo lebt es sich besser? Die Antwort auf diese Frage fällt naturgemäss subjektiv aus. Die OECD bietet mit ihren Analysen jedoch vergleichbare Daten zu Themen wie Wohnen, soziale Beziehungen, Sicherheit oder Work-Life-Balance – Sie finden die diese auf folgenden Seiten: FrankreichExterner Link, SchweizExterner Link.  

Fakt ist: Der Aufenthalt in Frankreich ist nicht immer dauerhaft. «Mehr als die Hälfte der Ausgewanderten kehrt innerhalb der ersten zehn Jahre in die Schweiz zurückExterner Link«, erklärte Nicole Töpperwien, Geschäftsführerin von Soliswiss, der Genossenschaft für Auslandschweizer:innen, 2023 gegenüber SRF. 

Wie lebt man in Frankreich? 

Eine Frau
Anna Lupina-Wegener in Archamps. zVg

Frankreich ist die siebtgrösste Wirtschaftsmacht der Welt, Gründungsmitglied der EU und durch seine Überseegebiete auf mehreren Kontinenten präsent – auch in diesen leben rund 1600 Schweizerinnen und Schweizer.

Als Land der Revolutionen, der Literatur, der Haute Couture und des Weins pflegt es sowohl den Geist als auch die Sinne. 

Der Lebensstil ist geprägt von einem besonderen Sinn für das «Savoir-vivre», der je nach Region variiert: dynamisch und schnell in Grossstädten wie Paris, entspannter in der Provinz. Pünktlichkeit wird flexibel gehandhabt – man spricht vom «Viertelstündchen der Höflichkeit».

Der Staat spielt im Alltag eine zentrale Rolle und wird als Garant des sozialen Gleichgewichts gesehen. 

Weitere hilfreiche Artikel zum Auswandern und Leben im Ausland finden Sie auf unserer Seite «Auswandern leicht gemacht». Offizielle Informationen des Bundes sind auf der Seite des EDA verfügbar, für weiterführende Beratungen steht die Auslandschweizer-Organisation (ASO) zur Verfügung.

«Im sozialen Bereich legt Frankreich grossen Wert auf das Quartierleben und lokale Vereine. Französische Höflichkeitsregeln sind strikt – insbesondere beim Siezen und in der geschäftlichen Korrespondenz», sagt Anna Lupina-Wegener, Professorin für interkulturelles Management, die in beiden Ländern gelebt hat.  

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – gefährdete Prinzipien? 

Neben dem Lebensstil weist Gilbert Casasus, emeritierter Professor für Europastudien der Universität Freiburg und Kenner Frankreichs, auf ein Paradox hin:

«Auf der einen Seite steht eine unbestreitbare kulturelle, technologische und geistige Vitalität; auf der anderen Seite soziale und identitäre Spannungen, die den republikanischen Gesellschaftsvertrag untergraben.»

Gilbert Casasus, emeritierter Professor für Europastudien der Universität Freiburg

Eine intellektuelle Spaltung zwischen einem kosmopolitisch-liberalen und einem souveränistisch-populistischen Lager, die mit dem «Non» zum EU-Verfassungsvertrag 2005 begann, habe sich seither vertieft und erschwere den gesellschaftlichen Dialog. 

Casasus sieht die republikanischen Ideale – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sowie den Laizismus heute in der Krise.

Frankreich, einst Verfechter des Anti-Kommunitarismus, fördere inzwischen neue Formen der Abschottung. «Sicherheitsdebatten begünstigen die Suche nach Sündenböcken, doch kulturelle Erfolge wie die Radiosendungen von France Inter zeigen auch die geistige Lebendigkeit des Landes.» 

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Wie steht es um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich? 

Die Schweiz und Frankreich teilen sich eine 600 km lange Grenze – und weit mehr. Paris und Bordeaux waren 1798 die ersten Städte mit offiziellen Schweizer Vertretungen im Ausland. Ende des 19. Jahrhunderts unterhielt nur Frankreich eine diplomatische Mission in Bern. 

Die bilateralen Beziehungen sind intensiv, insbesondere in Grenzregionen. Frankreich ist der fünftgrösste Handelspartner der Schweiz mit einem Warenverkehr von 37,5 Milliarden Franken im Jahr 2023. Über 1300 Schweizer Unternehmen sind in Frankreich aktiv und schaffen mehr als 300’000 Arbeitsplätze. 

Laut der «Banque de FranceExterner Link» ist die Schweiz auch die grösste europäische Investorin in Frankreich. Ende 2023 belief sich der Investitionsbestand Schweizer Firmen auf 114,5 Milliarden Euro.

Die Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» hat in diesem ArtikelExterner Link im Detail analysiert, was Frankreich für Schweizer Unternehmen so attraktiv macht. Umgekehrt ist Frankreich der fünftgrösste Investor in der Schweiz mit über 1800 Firmen und mehr als 83’600 Arbeitsplätzen. 

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Zahlreiche Start-ups entwickeln sich beidseits der Grenze und profitieren von einem starken Technologie-Ökosystem in der Schweiz sowie einem dynamischen Markt in Frankreich, schreibt das EDAExterner Link. Beide Länder kooperieren zudem in europäischen Projekten wie dem CERN oder der Europäischen Weltraumorganisation ESA. 

Im Jahr 2024 lebten 212’143 Schweizerinnen und Schweizer in Frankreich, während über 172’000 Französinnen und Franzosen in der Schweiz wohnhaft waren. Laut der französischen Sozialversicherungsbehörde Urssaf pendeln täglich fast 215’000 Grenzgänger:innen zur Arbeit in die Schweiz (Stand 2022).  

Ein Blick in die gemeinsame Geschichte 

Die helvetische Affinität zu Frankreich reicht bis in die Antike zurück und wurde durch Kettenmigration über Generationen hinweg gestärkt, wie die Historikerin Anne Rothenbühler in diesem Interview erklärte.

Schweizer Emigration war stets vielfältig: Söldner, Gardisten in Paris, Händler in Marseille, Bauern im Süden, Arbeiter im Norden, ledige Mütter, die im 19. Jahrhundert nach Paris flohen, sowie Hausangestellte, Gouvernanten, Hoteliers und Künstler. 

In Lyon reicht die Geschichte der Schweizer:innen bis ins 16. Jahrhundert zurück, als die Stadt ein bedeutendes Handelszentrum war. Heute wählen viele die Stadt aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen der pharmazeutischen und chemischen Industrie – und pendeln teilweise in die Schweiz. (Mehr zu Lyon in diesem Artikel.) 

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In Marseille – einst Tor nach Amerika – liessen sich im 19. Jahrhundert viele Schweizer und Schweizerinnen nieder. Die Widerstandskämpferin Berthe Albrecht Wild, Tochter eines Schweizers, hat dort ebenso Spuren hinterlassen genauso wie der Architekt Le Corbusier mit seiner «Cité radieuse». 

Stéphanie Leu, Präsidentin der Amicale Suisse de la Haute-Marne und studierte Historikerin, widmete ihre Masterarbeit und Teile ihrer Dissertation der Integration von Schweizern:innen in diesem Département:

«Bis in die 1950er Jahre integrierten sie sich – meist als Käser oder Landwirte – recht gut, wurden aber auch beneidet: wegen ihres Erfolgs, ihrer Neutralität – die sie vom Wehrdienst verschonte, ihrer protestantischen Religion, ihrer Sprache – Schweizerdeutsch wurde oft mit Deutsch gleichgesetzt, oder ihrer Berufe, denn die Käserei war für den Wohlstand des Dorfs essenziell.» 

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Editiert von Samuel Jaberg

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Emilie Ridard

Welche Vor- und Nachteile empfinden Sie als Auslandschweizerin oder Auslandschweizer am Leben in Frankreich?

Was macht das Leben dort Ihrer Meinung nach angenehm? Was lässt Ihnen die Haare zu Berge stehen?

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